“Im Kopf habe ich 30 Mal aufgeben” – Wie ein 100-Kilometermarsch das Leben eines Jungen Berliners verändert hat

Naivität: Eine Eigenschaft, die keinen guten Ruf genießt. Zu Unrecht. Denn als Vladimir Povedich vom Mammutmarsch hört, braucht es vielleicht genau diese Blauäugigkeit, um sich kurzentschlossen für die Ultrawanderung anzumelden. 100 Kilometer in 24 Stunden. „Kann ich das schaffen? Keine Ahnung. Ich hatte überhaupt keine Vorstellung von so einer langen Distanz.“

Egal, Herausforderung angenommen, das wird sicher gut. Kurz darauf ist von dieser Euphorie nichts mehr übrig. Alles, was bleibt, ist der verzweifelte Gedanke „Wenn ich jetzt stehen bleibe, sterbe ich.“ 

Berlin 2007. Der Mammutmarsch steckt noch in den Kinderschuhen, es ist das erste offizielle Event. Die Organisation ist dementsprechend simpel: Eine ausgedruckte Karte, zwei provisorische Verpflegungsstationen, eine Urkunde im Ziel.

Ganze 17 Teilnehmer machen sich auf den Weg. Die Stimmung ist ausgelassen, man lernt sich kennen und quasselt am laufenden Band. Irgendwann kippt die Stimmung. Müdigkeit und Erschöpfung machen sich breit, die ersten Blasen bilden sich und schmerzen bei jedem Schritt. Der anfangs noch sinnvolle Gesprächsstoff mutiert zu wirren Wortfetzen, mit jedem Kilometer wird es konfuser und alberner. Und dann wird es richtig schlimm.

Es wird dunkel und fängt an zu schütten, die Truppe ist längst nicht mehr beisammen, vor und hinter Vladi liegt nichts als Wald. 

„Im Kopf habe ich mindestens 30 Mal aufgegeben.“

Zwischen Starkregen, schmerzenden Füßen und völliger Orientierungslosigkeit in einem Labyrinth aus Wald, Wald und noch mehr Wald, ist sich Vladi sicher: „Wenn ich jetzt stehen bleibe, sterbe ich. Hier findet mich doch keiner.“ Sein Handyakku hat längst den Geist aufgegeben, die Landkarte ist komplett durchnässt und er kommt nur noch im Schneckentempo voran.

Vladis Grenze ist erreicht – mental zumindest. Sein Körper macht dort weiter, wo sein Kopf schon aufgegeben hat. So schafft er es irgendwie, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er erinnert sich an ein Mantra, das er vor einiger Zeit mal gelesen hatte: „Du kannst ruhig aufgeben, solange du dabei weiterläufst.“ Und genau das tut er. Seine Strategie, Kopf und Körper voneinander zu trennen, geht auf. 

Nach jeder Kurve flammt kurz eine Hoffnung in ihm auf. Der Wald muss doch irgendwann mal enden. Stundenlang passiert gar nichts. Und dann sieht er es: EIN AUTO. Normale Straßen. Zivilisation. Kein Wald mehr. Geil! Faszinierend, wie etwas so Banales auf einmal zum Highlight werden kann. Das ist der Turning Point. „Den Rest schaffe ich jetzt auch noch.“ Kurzes Päuschen, schnell zur Toilette alias zwischen zwei Hauseingänge hocken – In diesem Level von „Jetzt ist alles egal.“ ist Vladi inzwischen angelangt – und weiter geht’s.

Fünf Meter bis zum Klo können so weit sein

Das Ende vom Lied: Vladi schafft es. 100 Kilometer in 24 Stunden. Er und vier weitere Teilnehmer überqueren die Ziellinie. An die Tage danach erinnert Vladi sich ganz genau. „Wenn ich zur Toilette musste, war das ein endloser Akt. Jede einzelne Bewegung tat höllisch weh, das war kein Laufen, eher ein beschwerliches Kriechen.“ 

Nach ein paar Tagen folgt dann ein ganz besonderer Moment für Vladi: Der Augenblick des Genusses, der völligen Glückseligkeit. „Das war so eine pure Freude. Ich habe geweint und gedacht: Geil, was habe ich da geleistet? Jetzt kann ich alles schaffen. What’s next?“ 

Der Kopf: Kein Hindernis, sondern ein Türöffner

Vladi nutzt das Superman-Feeling, das sich nach seinem 100-Kilometer-Finish einstellt. Seine nächste Challenge ist der Berlin-Marathon. Auch hier geht er wieder durch die Hölle. Doch was er durch den Mammutmarsch gelernt hat, hilft:

Dein Körper kann mehr, als dein Kopf versucht, dir zu verkaufen! Unsere Gedanken können uns kleinhalten, wenn wir es zulassen – oder uns wachsen lassen. Vladis wichtigstes Learning: Den Kopf benutzen, wenn er dir helfen will und dich pusht. Ihn in die Schranken weisen, wenn er dir im Weg steht. Wann immer eine Situation schwierig wird: Trau dich, an dein Limit zu gehen und du kannst jedes Mental Game gewinnen. 

von Brit Weirich

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