Blind, chronisch krank, Kämpfernatur: Sarah bezwingt den Endgegner

Das Schicksal mischt die Karten, doch wir spielen das Spiel. Sarah hat schlechte Karten gezogen. Kein Ass, keinen Joker. Stattdessen startet sie mit einer chronischen Erkrankung ins Leben: Rheumatische Juvenile Polyarthritis. Diese Art von Rheuma greift den gesamten Köper an – Muskeln, Knochen, Gelenke und sogar die Organe. Ihre Augen sind stark beeinträchtigt, ihren Alltag meistert sie trotzdem. Ihr treuer Hund Ben und ihr Blindenstock sind wichtige Begleiter.

2020 griff die Erkrankung Sarahs Lunge an. Eine schwierige Zeit auf der Intensivstation begann. Fehlende Bewegung und die Einnahme zahlreicher Medikamente hatten eine starke Gewichtszunahme zur Folge. Ohne ihren Sauerstoffkonzentrator ging gar nichts mehr, selbstständig atmen war so gut wie unmöglich. Doch Sarah wäre nicht Sarah, wenn sie sich ihrem Schicksal einfach so ergeben hätte. Nein. Sarah stellt sich ihren schlechten Karten, mischt das Blatt neu und greift an. Aber lassen wir die frischgebackene NRW-Finisherin doch lieber selbst erzählen.

„Von jetzt an alles nur noch zu Fuß“

2021. Meine Erkrankung hatte deutliche Spuren hinterlassen. Mit 115 Kilogramm Körpergewicht war jeder Schritt eine Herausforderung. Das war ich leid. Ich wollte etwas ändern… Und diese Veränderung startete damit, dass mein Blindenhund Ben ein neues GPS-Gerät mit einer Sportfunktion bekam. Das motivierte mich: In Köln und Umgebung wurden keine Öffis mehr benutzt, ich erledigte von nun an alles zu Fuß. War ja eh Corona.

Von fünf Schritten zu einem Kilometer bis zu 20 Kilometern. Zusätzlich startete ich mit therapeutischem Krafttraining, Schwimmen und sogar Laufen. Niemand hätte wohl je für möglich gehalten, dass ich eines Tages wieder joggen werde. Mein vielleicht größter Gewinn zu dieser Zeit: Meinen Sauerstoffkonzentrator brauchte ich nicht mehr.

Im August 2021 bekam ich eine Smartwatch geschenkt. In der Fitbit Community sah ich den Post einer Frau: Sie hatte einen 55 Kilometer langen Mammutmarsch gefinisht. Ich war sofort gefesselt und wollte mehr erfahren. Nach einiger Recherche fand ich heraus: In Köln gibt’s zwar kein Event, dafür aber in Wuppertal. Allerdings wären das ganze 100 Kilometer. Das ist zu viel! Mit einer Freundin stieß ich dann auf die 55er Strecke in Dortmund. Das erschien uns machbar, also meldeten wir uns an, starteten und schafften es ins Ziel. Ich war so euphorisch, dass sofort feststand:

Mein nächstes Ziel ist der Endgegner

Kurz bevor es dann so weit war, kamen die Zweifel. Ich glaube, ich ging meinem Umfeld gehörig auf die Nerven… Kann ich das überhaupt schaffen? Soll ich das wirklich machen? Oder mein Ticket verschenken? Nein. Ein Rückzieher kam nicht in Frage.

10. September 2022. Es ist so weit. Scheiße, bin ich nervös. Der Marsch hat noch nicht einmal begonnen und schon habe ich mich auf dem Weg zum Gelände verlaufen. Es regnet in Strömen. Irgendwie bin ich trotzdem hochmotiviert. Ich bin aufgeregt, aber auf eine gute Art. Wie oft habe ich mir diesen Tag in Gedanken ausgemalt, bin jedes erdenkliche Szenario durchgegangen.

Ich sehe bekannte Gesichter und fühle mich direkt noch besser. Mit meiner Nervosität bin ich scheinbar nicht allein. Habe ich alles? Schnell noch ein paar Fotos machen. Noch ungefähr 100-mal zur Toilette rennen. Bändchen holen. Check. Jetzt stehe ich am Start, ein breites Lächeln im Gesicht. Ja, ich bin bereit. 3, 2, 1, Let’s go. Unser Team besteht hauptsächlich aus drei Mädels und einem Hund – Ben. Es regnet und regnet, doch die Stimmung ist anfangs trotzdem positiv.

„Alle umdrehen: Wir sind falsch“

Nach einigen Kilometern rief irgendjemand: „Alle umdrehen. Die komplette Startgruppe 1 hat sich verlaufen.“ Wir machten kehrt und fanden den richtigen Weg – der allerdings über einen Bach führte. Da soll ich jetzt drüber springen? (Bemerkung am Rande: Ich hatte zu allem Überfluss einen gebrochenen Arm). Ich sah mich schon mit einem zweiten gebrochenen Arm im Wasser liegen.

An dieser Stelle habe ich zum ersten Mal die grenzenlose Hilfsbereitschaft der Mammutherde zu spüren bekommen. Ein Mammut vor mir, ein Mammut hinter mir, ausgestreckte Arme, ein „Ich fange dich“ und schon war ich drüben. Ich war erleichtert und Ben nahm erstmal ein Bad.

Weiter ging es, doch dann: Stau. Als ich den Grund dafür sah, wurde mir ganz anders. Der Weg führte über eine enge Wendeltreppe, die unglaublich rutschig wirkte – vor allem bei dem Niederschlag. Für viele Mammuts wahrscheinlich keine große Hürde, für mich allerdings schon. Aber auch diese Station haben Ben und ich gemeistert.

Verpflegungspunkt 1. Der Regen lässt nach und ich befreie mich aus meiner durchnässten Kleidung. Blöd nur, dass meine Socken klitschnass sind und ich meine Wechselsocken zu Hause vergessen habe. Ein Fehler, der mir kein zweites Mal passiert!

Wir setzen unseren Weg fort, so langsam wird es dunkel und ich krame eine große Tüte Gummibärchen hervor – eine Zuckerzufuhr, die wir alle dringend nötig haben. Die Route führt in den Wald, heute ist Vollmond und die Atmosphäre ist irgendwie magisch. Weitaus weniger magisch sind allerdings die Pfützen in meinen Schuhen. Gut, dass VP 2 nicht mehr weit weg ist. Wir werden herzlich in Empfang genommen und neben der dringend benötigten Toilette gibt es Cola, Würstchen, Süßigkeiten – eben alles, was ein Mammut-Herz begehrt.

Selbstgebasteltes Schokobrötchen: Definition von Glück beim Mammutmarsch?

Eigentlich sollte es auch Schokobrötchen geben, auf die ich mich ganz besonders gefreut hatte. Leider kam ich dafür zu spät. Ein Freund von mir nahm das zum Anlass, mir einfach eines „nachzubauen“:  Er nahm ein Milchbrötchen und steckte ein Mars hinein. Manchmal braucht es nicht mehr, um glücklich zu sein!

Unsere Gruppe wird kleiner, ein Mammut steigt aus. Ich leere meine Blase und bemerke, dass sich dafür eine andere Blase – unter meinem Fuß – gefüllt hat. Unangenehm, aber nicht zu ändern. Weiter geht’s. Kurz nach dem zweiten Verpflegungspunkt erreichen wir eine Stelle, die mich ganz besonders nervös machte: Unebene, steile Trampelpfade im dunklen Wald, noch dazu bei Regen (der wieder eingesetzt hatte). Zwar gibt es Seile, an denen wir uns festhalten können. Beinahe blind und mit gebrochenem Arm gestaltet sich das jedoch etwas schwierig.

Die Mammutherde hilft sich gegenseitig!

Und wieder kommen mir die anderen zur Hilfe – übrigens nicht nur „meine“ Truppe, sondern auch fremde Mammuts! Einer vor mir, einer hinter mir, ein anderer leuchtet den Weg. Ich platziere meine Füße genau da, wo mein Vorläufer auftritt. Das ist Teamwork. Ein weiterer Bach, der überquert werden will. Geschafft. Meine Nerven liegen blank. Erstmal ein Foto machen, um die gemeisterte Challenge festzuhalten, und weiter geht’s.

Muss ich beim nächsten Verpflegungspunkt aufgeben?

So langsam wird mein Hund Ben müde und in mir werden Zweifel laut. Muss ich beim nächsten VP aufhören? Nicht meinetwegen, sondern weil Ben es nicht schafft? Enttäuschung und Verzweiflung steigen in mir auf, mein erstes großes Tief setzt ein. So viel Training, so viel Aufregung, und dann muss ich aufgeben? Ich spüre, wie sich Tränen in meinen Augen sammeln. Wir pausieren immer öfter, werden immer langsamer.

Da ist er: VP 3. Ich bitte die anderen darum, sich um Ben zu kümmern und mich erst einmal in Ruhe zu  lassen. Ich brauche einen Moment für mich, meine Emotionen kochen hoch und ich knalle meine Ausrüstung in die Ecke. Aber: Dank dem grenzenlosen Support werden sowohl Ben als auch ich so liebevoll aufgepäppelt, dass ich beschließe, weiterzugehen. DANKE an dieser Stelle an alle lieben Mammuts. Ein weiteres Mitglied unserer Gruppe steigt aus.

Mir ist kalt. Ich muss gefühlt alle fünf Minuten zur Toilette. Aber im Großen und Ganzen geht es ganz gut weiter. Was mir persönlich extrem hilft: zwischendurch langsam zu Joggen und immer wieder Pausen einzulegen. Außerdem pushen mich all die Nachrichten, die meine Liebsten mir zwischendurch schicken.

Als wir an der Ruhr entlanglaufen, kommt mir auf einmal der Gedanke: Was, wenn VP 4 schon geschlossen ist, wenn wir dort ankommen? Tja, immer diese doofen, destruktiven Gedanken (die am Ende meist unberechtigt sind, wie auch in unserem Fall!).

Wer den Endgegner kennt, hat den Aufstieg vor dem VP4 wohl gut in Erinnerung. Der Berg hat es wirklich in sich. Das Gute daran: Ich muss mich so sehr konzentrieren, dass ich für einen Moment sämtliche Schmerzen vergesse. Das Gelände ist so heftig, dass es dort ohne meinen Blindenstock nicht geht. Jede einzelne Bewegung ist anstrengend: körperlich UND mental. Ein falscher Schritt und es wäre vorbei.

Am vierten Verpflegungspunkt werden wir herzlich in Empfang genommen – von bekannten wie unbekannten Gesichtern. Mein absolutes Highlight: ein Käse-Sandwich. Wisst ihr eigentlich, wie gut so etwas nach 80 Kilometern schmeckt? Ein Biss von der herzhaften Leckerei und ich bin mehr denn je motiviert, es über diese verdammte Ziellinie zu schaffen.

Hilfe: Überholt vom Schlussläufer?!

Wir wollen uns gerade aufmachen, als ich den Schlussläufer – das letzte Mammut – sehe. Mist. So war das nicht geplant. Ich flehe ihn an: “Wir können gerne zusammen durchs Ziel, aber bitte hol uns erst in den letzten Metern ein.“ Der Schlussläufer schmunzelt und beruhigt uns: „Keine Sorge, hier gibt’s einen Kiosk mit super Kaffee, ich lasse euch gerne Vorsprung.“

Die letzte Etappe! Wir gehen los und das mit einer guten Geschwindigkeit. Bis es wieder ziemlich bergig wird. Mein Knie wollen nicht mehr. Empfang gibt es keinen, sodass ich mich noch nicht einmal mit aufbauenden Nachrichten meiner Freunde ablenken kann. Inzwischen bin ich immer wieder allein unterwegs, da sich der Rest unserer Truppe nach und nach aus den Augen verliert. Mein Bedürfnis nach Ablenkung wird so stark, dass ich beginne, alles um mich herum zu fotografieren.

Viel besser wird die Stimmung dadurch allerdings nicht. Wir verlaufen uns immer wieder und das 90-er Schild will einfach nicht auftauchen. Als wir es endlich erreichen, überkommt uns ein Hochgefühl, das uns leider wieder unaufmerksam werden lässt. Zack, die nächste falsche Abbiegung.

Ein Tritt in den Ar*** per WhatsApp

Aber: Der Empfang ist zurück. Ich bin drauf und dran, meinem Vater die Koordinaten zu schicken. Ich bin am Ende, habe Schmerzen, inzwischen knallt die Sonne. Ich will abgeholt werden. Aus unserer Mammut-WhatsApp-Gruppe erreicht uns dann aber eine Flut an motivierenden Nachrichten – wie ein Tritt in den Ar*** in Textform. Wir kämpfen uns weiter und kommen bei Kilometer 95 an. Dann merke ich, dass meine Powerbank nicht lädt. Mein Handyakku ist fast leer. Ohne Komoot weiterlaufen? Nicht denkbar. Aber Aufgeben ist nicht drin. Ich besorge mir kurzerhand eine neue Powerbank, trinke einen Schluck, schließe für einen kurzen Moment die Augen und versuche, zur Ruhe zu kommen.

Kilometer 98. Was soll mich jetzt noch aufhalten – könnte man meinen. In dem Moment bemerke ich, dass mein Blindenstock weg ist. Er ist wohl auf dem Spielplatz liegen geblieben, auf dem wir zuletzt Pause gemacht hatten. Ich fluche so laut, dass mich wahrscheinlich die ganze Stadt hören kann.

ICH. WILL. NICHT. MEHR.

Ich habe eine unbändige Wut auf alles und jeden in mir. Ich beschließe kurzerhand, zurückzulaufen, in der Hoffnung, dass mein Stock noch da ist. „Nur noch bis zum Spielplatz, dann ist Schluss für mich.“ Mir ist auf einmal alles egal. Die Medaille, das Finisher-Band, die Urkunde…

Meine Wut gibt mir einen neuen Energiekick und ich sprinte beinahe und fliege regelrecht über das Mäuerchen, das den Spielplatz umgibt. Mein Stock ist noch da. Ich greife danach und in dem Moment ist auch meine Entschlossenheit zurück: Dieser Mammutmarsch ist mein Endgegner, und ich werde ihn bezwingen. Tränen und Schmerzen werden ignoriert, ich laufe und laufe. Ein freundlicher Mann ruft mir im Vorbeigehen zu: Geradeaus und rechts. Danke! Mein Kopf ist nämlich zu nichts mehr in der Lage.

Hoch auf die Brücke. Noch 200 Meter bis zum Ziel. Noch 180 Meter. Ben merkt, dass es gleich geschafft ist, er beginnt zu ziehen. So sehr, dass ich Angst habe, hinzufallen. Das muss ein tragisch-komisches Bild abgeben. Und da ist es. Das Ziel. Ich kann es hören, sehen, fühlen. So viele Menschen, die auf mich warten. Meine Freunde, Sanitäter, Kalle. Meine Beine knicken weg und alle denkbaren Emotionen überkommen mich. Schmerzen, Erschöpfung, Erleichterung, Glück. Dann ein Asthmaanfall. Alle kümmern sich liebevoll um mich. Auch Ben ist in den besten Händen und wird versorgt. Meine Mitläufer sind ebenfalls wohlauf.

An dieser Stelle ein dickes, fettes Dankeschön an alle Volunteers. Ihr wart einfach klasse. Eine von euch hat uns sogar angeboten, uns nach Hause zu fahren.

ICH HABE ES GESCHAFFT!

In 30 Stunden und 47 Minuten haben Ben und ich den Endgegner bezwungen. Zu Hause angekommen, bin ich so unendlich erschöpft. Ich präsentiere müde, aber stolz meine Medaille. Meine Mama bringt mir Nudelsalat – und ich schlafe beim Kauen ein.

Ein kurzes Nachwort von mir, Brit: Als ich den Kontakt zu Sarah gesucht habe, konnte sie anfangs kaum glauben, dass ihre Story so „besonders“ ist. „Darüber möchtet ihr berichten? Was für eine Ehre!“ Liebe Sarah, lass dir eines gesagt sein: Du bist eine absolute Kämpfernatur und Inspiration und kannst VERDAMMT stolz auf dich sein. Die Mammutherde ist es auf jeden Fall!

Und an alle da draußen: Sarah hat ja zwischendurch befürchtet, vom Schlussläufer überholt zu werden, oder, dass der letzte VP schon geschlossen ist. Eines sollt ihr bitte wissen: Es ist uns EGAL, wann ihr ins Ziel kommt. Wir setzen Schlussläufer ein, um alle Mammuts sicher im Ziel zu wissen und wir feiern jeden einzelnen Teilnehmer, der überhaupt den Mut hat, anzutreten.

Und trotzdem könnten Sarahs abschließende Worte ihren Kampfgeist nicht besser unterstreichen: „Der Endgegner und ich, wir haben noch eine Rechnung offen. Ich komme wieder. Denn es heißt ja 100 Kilometer in 24 Stunden und nicht in 30:49!“

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