220 Kilometer nonstop: “Der Trick ist, das Tief nicht an sich heranzulassen”
In Covid-Zeiten müssen Alternativen her. Also haben wir zur “Around the World”-Challenge aufgerufen. Ziel war es, gemeinsam den gesamten Globus zu umrunden. Und hell yeah, das haben wir geschafft! Nicht nur einmal, sondern zweieinhalb mal! Unser “Last One Standing” Jannik Giesen hat unglaubliche 220 Kilometer dazu beigetragen.
Für mich klingt das nach einer perfekten Mischung aus Selbstdisziplin, Abenteuergeist und Wahnsinn. Ich durfte Jannik interviewen und bin nun noch beeindruckter als ohnehin schon. Was ihn antreibt, wie er mit Tiefpunkten umgeht und was sein nächstes Projekt ist, lest ihr hier.
220 Kilometer in rund 33 Stunden. Wow! Hast du dir im Vorfeld überlegt, welche Route und Distanz du in Angriff nehmen willst? Oder hast du gedacht “Mal schauen, wie weit ich komme”?
Ein bisschen was von beidem. Natürlich habe ich vorher ein wenig geträumt und überlegt, welche Distanz rechnerisch möglich wäre und wie weit ich gerne kommen würde. Allerdings war mir auch bewusst, dass man über eine solche Distanz nicht sicher planen kann. Meine längste Strecke am Stück waren vorher 100 Kilometer, alles darüber hinaus war also experimentell.
Mein Anspruch war es, die gesamte Distanz in einer großen Runde zu absolvieren. Also habe ich einen großzügigen, flexiblen Rundkurs geplant, mit drei von Freunden organisierten Verpflegungsstationen alle 60 bis 65 Kilometer. Ich hatte wirklich keine Vorstellung, wie weit mich meine Füße tragen werden, aber mit einer maximalen Länge der Route von 251 km hatte ich für alle Fälle vorgesorgt 😉
Wie geht es dir jetzt? Wie lange braucht dein Körper, um sich von derart extremen Belastungen zu erholen? Hilfst du da irgendwie nach?
Jetzt, eine Woche nach der Challenge, geht es mir sehr gut. Dadurch, dass ich die Route an einem Stück gegangen bin, die hohe Geschwindigkeit (6,6 km/h im Schnitt inkl. Standzeit), kaum nennenswerte Pausen (insgesamt ca. 45 Minuten Standzeit) und ein Rucksackgewicht von durchschnittlich ca. 5 kg, um die Distanz zwischen den VPs zu überbrücken, war die Belastung wirklich extrem.
Allerdings ist mein Körper von intensiven Fernwanderungen gewöhnt, sich über viele Wochen über Nacht von Tagesdistanzen bis zu 75 Kilometer zu erholen. Das hilft mir auch bei solchen Vorhaben: Muskulatur und Herz-Kreislauf-System fühlten sich am Donnerstagmorgen wieder wie vor der Challenge an. Gesunde Ernährung und ein paar zusätzliche Mineralien in der Woche vor und nach der Challenge helfen da sicher. Bleibt lediglich eine Verletzung in der Wade, die so nicht vorgesehen war. Ich hoffe, dass sich das schnell wieder ergibt.
Aktuell kann der Mammutmarsch in seiner normalen Form aufgrund von Corona ja leider nicht stattfinden. Fallen dir alternative Challenges wie die “Around the World”-Challenge schwerer? Zwar wanderst du aufgrund deiner schnellen Pace in der Regel bestimmt sowieso allein, trotzdem ist der gesamte Rahmen ja ein anderer: Keine Zuschauer, keine offiziellen Verpflegungspunkte, kein richtiger Zieleinlauf. Dämmt das deine Motivation?
Ganz im Gegenteil! Für mich setzen die digitalen Challenges einen neuen Reiz. Man muss dazu allerdings wissen, dass für mich die Motivation immer dann am stärksten ist, wenn ich selbst nicht so richtig daran glaube, dass das, was ich mir vorgenommen habe, möglich ist. Diese Frage stellt sich bei 100er Mammutmärschen schon länger nicht mehr (sorry!); da muss ich mir schon einen Angriff auf meine persönliche Bestzeit beim höhenmeterlastigen Mammutmarsch NRW (aktuell 13:29 h) vornehmen, um die Motivation für die intensive Vorbereitung aufzubringen.
Dagegen regen zum Beispiel die Idee, 100 km auf einer 100m-Runde im Garten zurückzulegen, wie beim Hike@Home 2020, oder jetzt die Last One Standing-Challenge meine Phantasie und Motivation richtig an! Klar hilft es da auch, dass die gesamte Community in der Vorbereitung und beim Event gemeinsam unterwegs ist.
Bei 220 Kilometern hattest du sicherlich einige Tiefpunkte, oder? Falls ja: Wann kamen sie und wie gehst du damit um? Wie kommst du aus dem Motivationstief wieder heraus?
Während der Challenge gab es drei auffällige Phasen. Die ersten 60 Kilometer hatte ich ein bisschen mit dem Rhythmus, nassen Füßen und damit zu kämpfen, dass noch ein so großer Teil der geplanten Strecke vor mir lag. Zwischen Kilometer 110 und 150 bin ich dann wie auf Wolken dahingeschwebt, die Zeit danach und insbesondere die frühen Morgenstunden waren ein einziger mentaler Tiefpunkt.
Der Trick ist, das Tief nicht an sich heranzulassen, sondern ihm mit stoischer Akzeptanz zu begegnen, dann sieht die Welt irgendwann auch wieder besser aus. Solche Phasen kommen und gehen und es ist die Zeit, die nicht zu vergehen scheint, die sie so schlimm erscheinen lässt. Wenn man also die Zeit im Griff hat, hat man auch alles andere im Griff!
Zeit: Ein gutes Stichwort. 33 Stunden sind wahnsinnig wenig, wenn man bedenkt, welche Distanz du zurückgelegt hast. Gleichzeitig fühlen sich 33 Stunden bestimmt wie eine Ewigkeit an, wenn man ununterbrochen auf den eigenen zwei Beinen unterwegs ist – und das komplett allein, ohne Ablenkung. Wie füllst du diese Zeit (gedanklich)?
Das stimmt. Die Zeit rum zu kriegen ist für mich die größte Herausforderung bei langen Wanderaktionen. Für mich geht sie seltsamerweise dann am schnellsten rum, wenn ich mich nicht durch Musik oder Hörbücher ablenke, sondern einfach die Gedanken treiben lasse. Auf mehrwöchigen Wanderungen verbringe ich daher weit über 90% der Zeit mit mir selbst.
Hattest du von Anfang an das Ziel, der “Last One Standing” zu werden? Würdest du dich als kompetitiven Menschen bezeichnen oder trittst du eher in einen Wettstreit mit dir selbst?
Mit den oben erläuterten Plänen kann ich wohl nicht leugnen, dass ich es auf den Titel angelegt habe (lacht). Ich bin ein total kompetitiver Typ, allerdings bezieht sich das nicht auf den direkten Vergleich mit anderen Menschen, sondern mit dem, was ich für mich selbst für (gerade noch) möglich halte.
Das erklärt auch, warum ich wochenlange Extremwanderungen auf mich nehme, ohne dass im Ziel jemand auf mich wartet, oder dass der Mammutmarsch, wo keine Zeiten genommen werden und es kein Ranking gibt, das einzige organisierte Sportevent ist, an dem ich seit der Fußballzeit in meiner Jugend teilgenommen habe.
Wie sah dein Proviant aus? Gibt es etwas, was du immer dabei hast?
Lange, intensive Wanderungen sind eine echte Kalorienschlacht, auf den 220 km habe ich 16.000 Aktivkalorien verbrannt. Deshalb glaube ich nicht an Spezialernährung oder Energiegels. Ich habe mich „normal“ bzw. kohlenhydratreich ernährt.
Auf jedem 60 km-Abschnitt gab es je eine Lunchbox mit Kartoffeln, Pasta oder Reis, etwas Obst, ein paar Müsliriegel und Nüsse sowie 3 Liter Wasser und Cola, Kaffee oder alkoholfreies Weizen am Verpflegungspunkt. Wirklich praktisch finde ich gekochte kleine Kartoffeln mit leichter Salzkruste, diese sind einfach zu essen und geben gute Energie.
Aufgrund der geringen Intensität stammt die meiste Energie beim Wandern aus der Fettverbrennung, deshalb kriegt man die verbrannten Kalorien nie vollständig wieder rein, egal was und wie viel man isst. Deshalb reicht es aus, regelmäßig zu essen, die restliche Energie nimmt der Körper aus den Reserven.
Wie gehst du mit der Müdigkeit um? Hast du da irgendwelche Tricks?
Müdigkeit ist für mich eigentlich kein Problem. Zum einen bin ich mental so „heiß“ auf die Challenge, dass ich mich von Anfang bis Ende in einem Energierausch befinde. Zum anderen ist die Intensität durchgängig so hoch, dass der Körper keine echte Gelegenheit hat, müde zu werden.
In den frühen Morgenstunden gibt es natürlich trotzdem einen leichten Knick in der Form. Dagegen hilft mir, regelmäßig zu essen und zu trinken und aktivierende Musik aufzulegen.
Hast du dich körperlich (oder mental) besonders auf die Challenge vorbereitet? Wenn ja: Wie sah diese Vorbereitung aus?
Mentale Stärke ist bei mir „ab Werk“ eingebaut, darauf kann ich mich immer verlassen. Körperlich habe ich mich ca. 2 Monate auf die Challenge vorbereitet (bzw. habe zufällig zum Jahreswechsel angefangen). In dieser Zeit habe ich etwa 850 km in schnellem Wandertempo zurückgelegt, etwa 10 km täglich unter der Woche und jedes Wochenende eine längere Tagestour zwischen 30 und 75 km, dazu intensives Lauftraining.
220 Kilometer, das klingt nach Schmerz, Anstrengung und einer Menge Biss. Hattest du trotzdem auch Spaß? Wie hast du dich gefühlt? Was hat dich angetrieben?
Die ganze Aktion klingt von außen nach unnötiger Quälerei, aber das war es nicht. Genau in den Momenten, wenn die körperliche Belastung hoch und die äußeren Umstände extrem hart sind, kommt mein Abenteurergeist zum Vorschein. In diesen Momenten zu bestehen und allen Hindernissen zu trotzen, das ist es, wofür ich das ganze mache, und wo ich den meisten Spaß habe.
Genauso wie auf meinen intensiven Fernwanderungen stellt sich bei so einer Challenge eine besondere Geisteshaltung ein, die all den Widrigkeiten mit Mut und Selbstvertrauen begegnet. Das fühlt sich großartig an und unterdrückt jeden (größeren) Schmerz, den man bei so einer Aktion erwarten würde.
Hättest du im Nachhinein etwas anders gemacht? (Bzgl. Route/Distanz/Uhrzeit/Proviant/Ausrüstung, etc.)
Auch mit vielen Jahren Erfahrung hat man immer etwas im Rucksack, das man den ganzen Weg umsonst getragen hat. Das war bei mir diesmal eine ganze Menge, das meiste davon aber den winterlichen Bedingungen geschuldet. So habe ich zum Beispiel Wechselsocken und Wechselshirts dabeigehabt, aber nicht gebraucht. Wirklich unnötig war ein halbes Kilo „Notfall-Verpflegung“, das ich lieber weggelassen hätte.
Wann hast du zum ersten Mal beim Mammutmarsch teilgenommen? Weißt du schon, welcher dein nächster Mammutmarsch (unter hoffentlich normalen Bedingungen) sein wird? Und was reizt dich an diesem Event?
Mein erster Mammutmarsch war 2018 der MM NRW, den habe ich noch gut in Erinnerung. Meine Freundin wollte teilnehmen und ich hatte mich bereit erklärt, sie zu begleiten. Als sie dann doch nicht teilnehmen konnte, blieb ich dabei. Beim rasanten Start wurde ich von manchem Zuschauer als derjenige gehandelt, der als erstes entkräftet aufgeben würde. Tatsächlich war ich dann aber gegen 5:30 Uhr nach 13:42 h als erster und leider auch als einziger im noch nicht besetzten Ziel. 2019 wurde dann eine eigene, spätere Startgruppe für mich eingerichtet, damit ich diesmal einen offiziellen Zieleinlauf genießen konnte 😉
Als nächsten Mammutmarsch hatte ich Berlin geplant, mit dem Ziel, unter 13 Stunden auf 100 km zu bleiben. An Mammutmärschen reizt mich, dass Menschen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Zielen zusammenkommen, um gemeinsam an ihre Grenzen zu gehen. Es gibt kein „zu langsam“, „zu wenig“ oder „zu schnell“, hier kann jeder sein, was er ist und machen, was er will.
Die Erde haben wir nun gemeinsam zweieinhalb Mal umrundet. Hast du einen Vorschlag für die nächste Challenge?
Um mit der gleichen Gruppe bis zum Mond zu kommen, bräuchten wir einen Durchschnitt von über 150 km pro Person, das ist wohl noch ein paar lange Trainingsmärsche entfernt 😉 Spannend fände ich zum Beispiel eine gemeinsame Fernwanderung, z.B. eine Deutschland-Durchquerung von Nord nach Süd oder Ost nach West, an der jeder ein Stück mitgehen kann. Vielleicht sogar die schnellste aller Zeiten?
Danke für diesen spannenden Einblick!
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Die Maschiene war wieder am Werk :p Für alle noch ne nette Geschichte die ich zu gerne erzähle:
Mammutmarsch NRW 2018. Ich steh mit meinem Kumpel ganz vorne, weil wir erst einmal vom Hauptfeld weg wollten. Zu uns gesellte sich Jannik. Im Gespräch kam dann raus, das er auch relativ fix unterwegs ist. Aber: er stand dort mit einem normalen Hemd, keine besonderen Schuhe und kein sonstige Wander Ausrüstung. Ja ich geb zu da dachte ich auch: Na der wird sich wundern… Und was er dann am Start für ein Tempo los gelegt hat, Wahnsinn. (hatte bis VP 1 7,4km/ drauf, aber Jannik hab ich nach 500m schon nicht mehr gesehen…) Ergebnis: ich mit Blasen raus bei VP 2, Jannik im Ziel in unter 14 Stunden.
Bzgl Idee Deutschland Durchquerung… da bin ich definitiv dafür! Aber bitte mit genug Vorlaufzeit wegen Urlaub, den wenn würde ich gerne die komplette Tour gehen.
LG