Ernsthaft verletzt oder nur müde? Wenn Aussteigen das einzig Richtige ist

Keine Frage, Wandern ist gesund. Vielleicht kann man Wandern sogar als den Gesundheitssport schlechthin bezeichnen: Der Outdoorsport hält nicht nur fit, sondern ist noch dazu gelenkschonender als beispielsweise Laufen. 

Gerade für Menschen, die viel sitzen und durch die Schreibtischarbeit an chronischen Rückenschmerzen leiden oder permanent mit einem steifen Nacken zu kämpfen haben, kann Wandern ein wertvoller Ausgleich sein. Denn dadurch trainieren wir gleichmäßig alle Partien der Rumpfmuskulatur. Und je mehr wir diese stärken, desto mehr wird die Wirbelsäule entlastet.  

Aber wo ist die Grenze beim Grenzensprengen?

Gerade beim Ultrawandern verlangen wir dem Körpern auch einiges ab und stoßen an unsere Grenzen. Das soll ja auch so sein, denn darum geht es beim Mammutmarsch ja: Die eigenen Grenzen kennenzulernen und zu sprengen. Wer plant, 100 Kilometer zu laufen, rechnet mit Schmerzen. Und da man so etwas ja nicht alle Tage lang macht, ist es manchmal gar nicht so leicht, den eigenen Körper richtig einzuschätzen. Dass es hart wird, wissen wir ja. Aber ab wann deutet ein Schmerz auf eine ernstzunehmende Verletzung hin und wann sind wir vielleicht einfach müde? Und welche Art von Verletzungen sind ein Grund zur Aufgabe?

Aber Moment, was heißt hier “Aufgabe”? Erfolg oder Misserfolg ist reine Definitionssache. Die 100 Kilometer zu finishen ist erstrebenswert, doch wir sollten uns auch immer fragen, welchen Preis wir bereit sind, dafür zu zahlen. Im Leben läuft nun mal nicht immer alles nach Plan. Erfolg könnte auch bedeuten, alles gegeben zu haben und nach 50 Kilometern auszusteigen, weil unser Körper uns Grenzen aufzeigt, die wir achten und respektieren. Durch den Ausstieg haben wir dann womöglich schlimmere Verletzungen verhindert, die uns sonst wochenlang außer Gefecht gesetzt hätten. 

Eine realistische Selbsteinschätzung bei extremen Unternehmungen wie dem Mammutmarsch ist gar nicht so leicht. Die hohe Erwartung, die wir an uns selbst haben, das Adrenalin, die Euphorie und ein starker Wille können dazu führen, dass wir Schmerzen ignorieren oder runterspielen. Es gibt aber Situationen, in denen das der falsche Weg ist.

Denn: Unser Körper ist schlau. Er sendet uns diese Schmerzsignale nicht, um uns zu ärgern, sondern als Warnung. Ähnlich ist es mit Ermüdungs- und Erschöpfungssignalen: Der Körper zeigt uns, dass er eine Pause braucht, vielleicht auch etwas Energie in Form von Essen oder Trinken. Geben wir ihm nicht, was er braucht, kann das fatale Folgen haben: Wir werden unkonzentriert, vertreten uns, knicken um… Je nach Gelände kann das böse enden. 

Wenn du dir unsicher bist, wie ernst dein Zustand ist und ob du lieber aussteigen solltest, kann es helfen, dir folgende Fragen zu stellen:

  • Denke langfristig: Wie hoch ist der Preis, den ich zahle?
  • Laufe ich Gefahr, mich noch schlimmer zu verletzen, wenn es dunkel wird und ich müde und unkonzentriert werde?
  • Kann ich ohne Schmerzmittel wandern?
  • Kann ich die Schmerzen abwenden, indem ich meine Ausrüstung anpasse (z. B. die Schuhe oder Socken wechsle?)
  • Kann ich realistischerweise ans verletzungsfrei ans Ziel kommen, wenn ich an Geschwindigkeit rausnehme oder mehr Pausen einlege?
  • Was würdest du einer anderen, dir nahestehenden Person raten, die sich in deiner Lage befindet?
  • Abstand hilft, die Dinge klarer zu sehen: Was wirst du wohl in einem Jahr über die Situation denken?
  • Gab es bereits eine ähnliche/gleiche Situation? Wie hast du dort gehandelt? Hättest du im Nachhinein lieber anders gehandelt? Was konntest du daraus mitnehmen?
  • Was könnte schlimmstenfalls passieren, wenn du vorzeitig aussteigst? Denke ruhig, soweit es geht, auch wenn du deine eigenen Vorstellungen als übertrieben oder lächerlich empfindest.

Sich zu verletzen, den eigenen Erwartungen nicht gerecht zu werden und schließlich die Entscheidung zu fällen, auszusteigen, kann mit einer großen Enttäuschung verbunden sein. Zumindest kenne ich das von mir selbst. Die selbstkritische Stimme, die mich davon überzeugen will, dass ich bestimmt nur erschöpft bin und weiterkämpfen muss, ist immer ein kleines bisschen lauter, als die rationale Stimme der Vernunft, die mir sagt: Du bist verletzt, aufhören ist das einzig Richtige. 

Aufhören ist nicht Aufgeben, sondern, den eigenen Körper zu wertschätzen und zu respektieren. 

Hinterher kann man die Situation oft besser einschätzen. Wenn wir übermüdet, körperlich und mental angestrengt und obendrein womöglich verletzt sind, handeln wir wahrscheinlich nicht rational, sondern emotional. Um das zu vermeiden, kann es helfen, sich auf genau dieses Szenario vorzubereiten:

  1. Schließe einen Pakt mit dir selber und lege schon im Vorfeld fest, wann du aufhörst.
  2. Kalkuliere ein, dass nicht unbedingt alles nach Plan verläuft, damit die Enttäuschung nicht allzu groß ist.
  3. Versuche, bereits beim Training auf deinen Körper zu hören und seine Warnsignale kennenzulernen.
  4. Sorge im Vorfeld dafür, dass du jemanden kontaktieren kannst, der dich im Notfall abholt. So bist du nicht darauf angewiesen, dich verletzt bis zum nächsten Verpflegungspunkt zu schleppen und deinen Zustand womöglich noch zu verschlimmern.
  5. Auch, wenn du in einer Gruppe losgezogen bist: Halte dir vor Augen, dass du nur für dich selbst verantwortlich bist. Wenn du ernsthaft verletzt bist, solltest du nicht aus Verantwortungsgefühl (um deine Mitläufer*innen nicht “im Stich zu lassen”) die Warnsignale deines Körpers ignorieren.
  6. Eine Notfallapotheke dabeizuhaben ist praktisch und kann bei kleineren Wehwehchen wie Blasen sicherlich die Rettung sein! Aber: Wenn du jede weitere Stunde nur mit einer Ibu überstehst, ist das kein gutes Zeichen. Schmerzen zu unterdrücken bedeutet nicht, dass die Verletzung bekämpft wird. Ganz im Gegenteil.

Wir haben nur diesen einen Körper. Und wir sollten ihn für das, was er bewerkstelligt, feiern und wertschätzen anstatt ihn zu bestrafen. 🙂

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