“Ich stehe wieder im Leben” – Wie der Mammutmarsch Jennifers Kraftgeber wurde
Wer schon mal einen Mammutmarsch gemeistert hat, weiß: Das ist verdammt nochmal hart. Eine Challenge, die einem die letzten Kräfte rauben kann. Doch so paradox es klingt: Ultrawanderungen scheinen uns zwar unfassbar viel Energie zu kosten, die wir aber doppelt und dreifach wieder zurückerhalten, sobald wir die Ziellinie überquert haben.
Denn das Gefühl, stolz auf die eigene Leistung zu sein, hält an, wenn Müdigkeit und Muskelkater längst verschwunden sind. Dieser Stolz ist eine Ressource, auf die wir auch nach langer Zeit noch zurückgreifen können und die uns Kraft in schwierigen Situationen geben kann, ganz nach dem Motto: “Ich bin XY Kilometer gelaufen. Was soll mich jetzt noch aufhalten?”
Dass Wandern uns seelisch und körperlich stärken kann und ein wertvolles Ausgleichsventil ist, durfte ich selbst auch schon erfahren. Für mich steht Wandern für Fortbewegung, Weiterentwicklung und dafür, sich Zeit für sich selbst zu nehmen. Das Wandern ermöglicht einen Weitblick, der die Natur beinahe zum Therapieplatz werden lässt.
Wie viel Kraft eine Veranstaltung wie der Mammutmarsch tatsächlich zu spenden vermag, durfte ich durch eine wunderbare Teilnehmerin erfahren, die ihre Geschichte mit uns geteilt hat – eine Geschichte, die mich persönlich sehr bewegt hat. Für Jennifer war allerdings nicht “nur” das Wandern an sich heilsam. Vielmehr half ihr die tolle Community: Angst vorm belächelt werden, weil man scheitert, weniger fit ist als andere? Nicht denkbar! Ganz im Gegenteil. Du, ich, wir alle waren bestimmt schon mal an einem Punkt, an dem gefühlt nichts mehr ging. Und dann kommt ein Mitwanderer, der einen pusht, mit Worten, einem Lächeln, einem Blasenpflaster oder auch einfach einem Schokoriegel. Die eigenen Grenzen sprengen, sich selbst mit Leistungen zu überraschen, die man nicht für möglich gehalten hätte und der Support durch Menschen, die an dich glauben: All das konnte Jennifer für sich nutzen, um ihren von Traumata geprägten Lebensweg aufzuarbeiten. Aber ich möchte nichts vorweg nehmen, sondern diese bewundernswerte Kämpferin selbst erzählen lassen:
Mein Opa war meine heißgeliebte Bezugsperson. Er hat an mich geglaubt. Er hat so extrem lange mit mir geübt, bis ich endlich Fahrrad fahren konnte… Er hat immer im Schaukelstuhl gesessen und mir vorgelesen. Als ich 6, beziehungsweise fast 7 Jahre alt war, sollte ich ihn zum Mittagessen runterholen. Oma und Opa wohnten damals über uns. Ich habe ihn tot auf dem Bett liegend gefunden – und mir selber die Schuld an seinem Tod gegeben. Ich habe schon damals alles runtergeschluckt, völlig verdrängt.
Vom 5. bis zum 10. Schuljahr wurde ich gemobbt. Mit 18 Jahren und mit Anfang 20 wurde ich vergewaltigt. Mit 25 Jahren musste ich einen Säugling, ein so kleines Neugeborenes, reanimieren. Sie ist mir unter den Händen verstorben. In meinen Armen. Ich war hilflos, ich konnte nichts tun.
Ich habe weiterhin alles komplett runtergeschluckt, komplett verdrängt. Ich habe zu dieser Zeit mit niemandem jemals darüber geredet. Ich hatte eigentlich kein Selbstbewusstsein, kein Selbstvertrauen. Innerlich war ich eine leere Hülle. Mich als Person gab es kaum. Ich habe nur existiert, um alle anderen zu 1000 Prozent zufrieden zu stellen. Ohne Rücksicht auf mich. Nur meine äußere Fassade stand absolut perfekt. Ich habe das getan, was das Umfeld von mir erwartet hat.
Irgendwann haben mich meine Erlebnisse bis in meine Träume verfolgt. Nachts kam alles hoch. Wenn ich allein war, hat mich die Vergangenheit überrannt. Eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelte sich. Ich wollte das nicht mehr. ICH WOLLTE ICH SEIN. Ich wollte existieren!!!
Also begann ich im August 2018 eine Therapie. Mein Therapeut arbeitete die seelischen Traumata mit mir auf. Trotzdem ging es mir innerlich noch nicht gut. Nach außen stimmte die Fassade weiterhin perfekt. Ich verstand teilweise einfach nicht was mein Therapeut überhaupt von mir wollte.
Er akzeptierte mich einfach, wie ich war.
Und dann kam im April 2019 der Mammutmarsch in mein Leben. Ich bin beim Little Mammut Ruhr gestartet. Nach 17 km war ich gefühlt am Ende. Ich habe mich bis zum ersten VP bei Kilometer 20 geschleppt (zumindest, soweit ich mich erinnere). Dort habe ich Salzstangen und ganz viele liebe Worte von einem mir völlig fremden jungen Mann bekommen, der als Volunteer dabei war. Er glaubte einfach an mich. Er akzeptierte mich einfach, wie ich war. Die ganze Veranstaltung war von soooo viel Herzlichkeit geprägt. Ich verstand die Bedeutung der Worte damals noch nicht so wirklich. Aber sie taten soooo gut. Ich bin weiter gegangen und habe die 30 Kilometer WIRKLICH gefinisht.
Es war so extrem unglaublich. Ich hatte von mir aus, komplett eigenständig, etwas Grandioses geschafft. Ich war glücklich, stolz, ich habe mich geborgen in der Mammutherde gefühlt. Jetzt gerade, beim Tippen, überwältigt es mich noch immer. Ich kriege Gänsehaut und die Worte, um die Gefühle 😍🥰 dieses Finishes zu beschreiben, fehlen mir…
Ich ging weiter zur Therapie und so langsam verstand ich, konnte ich nachvollziehen, was der Therapeut mir versuchte zu vermitteln.
Dann bin ich auch in 2019 beim Little Rhein Main gestartet. Auch hier habe ich die 30 Kilometer gefinisht. Auch, wenn ich beim Zieleinlauf direkt vor Bastis Füßen auf meinen Vier Buchstaben auf dem Hintern gelandet bin: Etwas „bekloppt“ hatte ich versucht, mit einem Radschlag 🤸♀️ ins Ziel zu kommen. Erfolglos. Und trotzdem NICHT gescheitert!!! Ich HABE gekämpft (diese Höhenmeter) und habe erneut gefinisht.
Bastis Umarmung im Ziel war der Hammer 🤩 und wieder glaubten ALLE dort an mich. Nahmen mich einfach so herzlich auf… auch, wenn das mit dem Radschlag schief ging. Keiner hat gelacht. Ich fühlte mich erneut geborgen, aufgenommen und akzeptiert.
Ich war stolz, trotz des missglückten Zieleinlaufs. Ich konnte meine Leistung der 30 km würdigen, anerkennen Meine Therapie ging weiter. Ich fasste Selbstvertrauen und baute Selbstbewusstsein auf. Immer, wenn es mal (völlig normale) Rückschläge gab, habe ich die Zielfotos und Medaillen der Mammutmärsche angeschaut. Das Gefühl, das beim Gedanken an meine Zieleinläufe hochkam, half mir, neuen Mut, neue Energie zu fassen. Und ich konnte immer weiter an mir arbeiten. Auch im Alltag, auf der Arbeit, eigentlich immer dann, wenn Schwierigkeiten auftraten, konnte ich auf das Wissen, die Gefühle des Finishs zurückgreifen… und plötzlich an MICH SELBER glauben.
Der Mammutmarsch war der Klick im Kopf, den ich brauchte.
Mein Therapeut sagte einmal, er sei nur ein Navigationsgerät. Den Weg müsse ich selber gehen. Und der Mammutmarsch war meine Straße in MEIN neues Leben, mein Energie- und Kraftgeber. Der Mammutmarsch war der Klick im Kopf, den ich brauchte! Und durch seine grenzenlose Akzeptanz und diese Herzlichkeit zugleich auch mein Lebensretter.
Ich stehe wieder im Leben. Meine Vergangenheit existiert, bestimmt aber nicht mehr mein Ich. Sie bestimmt nicht mehr mein Leben! Sie gehört zu mir, zieht mich aber nicht mehr runter. Ich kann im Alltag und bei meinen weiteren Märschen alles schaffen. Grenzen bestehen nur in unseren Köpfen.
Der Mammutmarsch ist für mich keine Veranstaltung mehr! Mammut sein ist vielmehr zu einer Lebenseinstellung geworden – immer und überall präsent. Einmal Mammut mit Leib und Seele, für immer Mammut!
Die Mammutherde ist eine Familie geworden.
Ich bin ein klein wenig positiv verrückt. Sorry 🤪 Man findet mich mittlerweile auf fast jeder Veranstaltung… mir fehlen noch genau die 42 Kilometer in Heidelberg, dann hole ich mir dort hoffentlich den Blackbelt. Inzwischen habe ich drei 100er gefinisht (Hike at Home, Hike Alone in München und die Around the World-Challenge). Gegen Ende kamen immer kurz Selbstzweifel und ein bisschen Gemecker. Aber jedes Mal hat mir der Zuspruch der Mammuts, zum Beispiel per Whatsapp, die Kraft gegeben durchzuhalten. Die Mammutherde ist eine Familie geworden. Und ich habe neue Freunde kennen und lieben lernen dürfen.
Danke Jennifer, für deine Offenheit und deinen Mut, deine bewegende Geschichte mit uns zu teilen. Auf dass sie ganz viele Menschen erreicht und inspiriert! Hast du auch eine Geschichte, die du mit uns und der Community teilen möchtest? Wir freuen uns über deine Nachricht.
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Jau, sehr bewegende und emotionale Zeilen.So habe ich dich kennen und schätzen gelernt. Immer wieder schön, dich zu treffen, mit dir zu marschieren und zu schnacken. Hoffentlich noch viele GEMEINSAME MAMMUTKILOMETER. Immer daran denken, telefonisch bin ich immer zu erreichen!!😘